6. Abschied
Die letzte Ferienwoche verging wie im Flug, bald sollte die Schule wieder anfangen. Am letzten Abend vor der Heimreise saßen wir noch einmal gemeinsam am Lagerfeuer – Tommi dicht neben mir. Alle trugen ihre Jungschar- Kleidung, die blauen Halstücher ordentlich gebunden. Diesmal sang Tom nicht mit, sondern tat wieder nur so. Er drehte seinen Kopf zu mir und grinste mich an. Wir waren richtig gute Freunde geworden – ohne irgendwelche Geheimnisse voreinander. Am nächsten Morgen hieß es dann nach dem Frühstück Koffer packen – die Fähre wartet nicht. Eine schöne Zeit, mit vielen neuen Erlebnissen und Erkenntnissen, ging nun unweigerlich zu Ende.
Auf der Fähre standen Tom und ich dicht nebeneinander, wir schauten hinaus aufs Meer. Wie alle Anderen auch, trugen wir natürlich auch hier unsere Jungschar- Kluft und Sandalen an den nackten Füßen. Jeder sollte sehen, wer wir sind. „Toll war´s, oder?” „Ja – nächstes Jahr fahre ich bestimmt wieder mit – Du auch?” „Na klar!” Im Zug saßen wir uns im Abteil gegenüber – wir hatten uns die Fensterplätze erobert. Gefühlsmäßig dauerte die Rückfahrt wesentlich kürzer als die Anreise vor drei Wochen. Wir hatten ordentlich viel Sonne abbekommen, und das sah man uns auch an. Immer näher kamen wir unserem Ziel – am Bahnhof standen bestimmt schon unsere Eltern und warteten auf uns. Es war bereits früher Abend geworden, als der Zug einfuhr. Wie wir es uns gedacht hatten, war der Bahnsteig voll mit wartenden Müttern, Vätern und Geschwistern. Bepackt mit unseren Koffern und Taschen zwängten wir uns durch die Zugtüren auf den Bahnsteig. Ein Stück entfernt stand meine Mutter und sah sich nach mir um – ich winkte ihr zu. Schnell war sie bei mir und nahm mich in ihre Arme. „Lass Dich anschauen, Junge! Du hast ja richtig Farbe bekommen! War es schön?” Ich brauchte ihr nicht zu antworten; das Strahlen meiner Augen sagte alles. Suchend schaute ich mich zu Thomas um; er stand nur etwa 10 Meter von mir entfernt neben seinem Vater und redete wie ein Wasserfall. Sein Vater stand nur lächelnd da und hörte ihm zu. „Moment, Mama, ich bin gleich wieder da”, rief ich meiner Mutter schon im Weglaufen zu. Ich rannte zu Tommi und nahm ihn einfach in meine Arme. Sofort stoppte er seine Redelawine und umschlang mich fest. „Tschüss – sehen wir uns am Mittwoch beim Gruppentreffen?” „Na klar, was denkst Du denn?”
Nun trafen wir uns wieder nur noch einmal pro Woche zum Jungschar- Abend im CVJM- Haus. Ansonsten ging jeder seiner Wege. Wir schafften es einfach nicht, uns zu verabreden; einmal hatte ich Chorprobe oder Nachhilfe- Unterricht, das andere Mal musste er mit seinen Eltern zum Geburtstag seiner Oma – es war wie verhext. Ich wusste fast gar nichts von Thomas – weder seinen Nachnamen, noch wo er wohnt. Doch das fiel mir erst so richtig auf, als wir uns getrennt hatten und der Bahnsteig langsam immer leerer wurde. Irgendwann erschien er dann auch nicht mehr zu unseren Treffen; ich fragte unseren Gruppenleiter nach ihm: Tommi war in eine andere Stadt gezogen. Damals dachte natürlich noch niemand von uns wirklich daran, diese neuen und unter die Haut gehenden Gefühle auszuleben, an die Peer, der schwule Betreuer, uns herangebracht hatte; wenn überhaupt, hatte man gefälligst eine Freundin! Doch schon damals hätte ich mir so gewünscht, noch viel mehr mit Tommi gemeinsam zu unternehmen; ich war traurig, als klar war, dass ich ihn nicht wieder sehen würde.