Fortsetzung TEIL 5
Hanna war der Mutterersatz, obwohl Sabine irgendwie den Eindruck hatte, dass Hanna damit überfordert war und ihre Rolle nicht gerne übernahm.
So ging alles seinen „normalen” Gang, Mutter sorgte für das leibliche Wohl ihrer beiden Töchter Hanna und Sabine, Vater verdiente (und versoff auch wieder) das Geld, und Hanna war die seelische Stütze für die kleine Schwester Sabine. Bis eines Tages …
Vater Herbert kam mal wieder deutlich angeheitert vom Volksfest „Cannstatter Wasen” nach Hause und hatte sogar die Chuzpe, seiner schimpfenden Frau von einer “tollen” Bekanntschaft mit einer fast dreißig Jahre jüngeren Bedienung im Festzelt zu erzählen, der er ein Brathähnchen und eine Maß Bier spendiert habe, weil sie so „..furchtbar nett” gewesen sei! Natürlich kam es zu einem Heidenkrach! Normalerweise zog sich Sabine immer aufs gemeinsame Zimmer von Hanna und ihr zurück, um die häufige Streiterei nicht miterleben zu müssen.
Dieses Mal aber war Hanna nicht da, und Sabine wurde hellhörig, als die Rede auf ihre ältere Schwester zur Sprache oder vielmehr zur Streiterei kam: „Du alter Hurenbock!” Schrie ihre Mutter, „ich schinde und plage mich den ganzen Tag, um das Bisschen Geld, was du nicht in die Wirtschaft trägst, zusammenzuhalten, und du spendierst einer Schnalle auf dem Volksfest eine Mahlzeit, wo dort die Preise so unverschämt hoch sind! Statt dich um unsere Tochter und deinen Bankert zu kümmern, lässt du dir’s Geld aus der Tasche ziehen und dich voll laufen! Ich hätte gute Lust, dich anzuzeigen, auch wenn es unsere Familie, die schon längst keine mehr ist, auseinander-reißt!”
Immer, wenn Mutter Roswitha mal so richtig am Schimpfen war, hielt der Vater den Rand, denn meistens hatte Mutter ja Recht und er keine schlagenden Gegenargumente parat. Dass er also nichts entgegnete, war für Sabine nichts Ungewöhnliches. Aber ein Wort oder eigentlich zwei Worte ließen sie stutzen: ‚Was sollte das heißen „unsere Tochter” und wer war der besagte „Bankert”? Irgendwie trifft doch das nicht auf unsere Familie zu, oder?’ Sagte sich Sabine.
Sie war so verwirrt, dass sie dem Fortgang der Streiterei, die im übrigen auch schnell beendet war, nicht weiter zuhörte, als Vater plötzlich wortlos das Haus verließ, sich ins Auto setzte und im Suff gegen einen Brückenpfeiler knallte ― auf der Stelle tot! Dummerweise gab sich Mutter die Schuld an dem Unglück, und sie grämte sich darüber so sehr, dass sie drei Jahre später den Freitod im winterlich kalten Neckar suchte und fand.
Doch zurück zu jenem Abend des Familienstreites. Sabine hockte in dem gemeinsamen Kinderzimmer, als Hanna endlich von einer Party zurückkam. Noch wusste man nichts von dem Verkehrstod des Vaters. Hanna fragte ihre kleine Schwester, was denn los sei. Und Sabine erzählte, was sie bei dem Streit aufgeschnappt hatte.
Hanna wollte nicht so recht herausrücken, was diese ominösen zwei Worte zu bedeuten hätten, aber Sabine „löcherte” Hanna so lange, bis sie mit der bis dahin verschwiegenen Wahrheit endlich ans Licht trat:
„Sabine, ich muss dir was gestehen, aber kriege keinen Schreck! Du musst es unter allen Umständen für dich behalten, denn wenn Vater erfährt, dass ich es dir gesagt habe, bringt er mich um oder er geht unter Umständen ins Gefängnis. Nicht für den Mord an mir, sondern dafür, was er mir früher angetan hat!”
Sabine war ebenso schockiert wie neugierig, was so Schlimmes denn geschehen sei, dass Hanna beim bekannt Werden gleich um ihr Leben fürchtete.
In leisem Ton wie eine Verschwörerin sagte Hanna: „Unsere Mutter Roswitha ist zwar meine leibliche Mutter, aber nicht deine!”
Bautz!!! Das war allerdings ein Schock! Sabine brauchte eine gute Minute, bis sie den Brocken geschluckt und ihre Sprache wiedergefunden hatte.
„Bin ich adoptiert worden?” War Sabines nächstliegende Vermutung.
„Nicht ganz so nach üblichem Muster,” flüsterte Hanna weiter, „Deine leibliche Mutter bin nämlich ICH!!!”
Der nächste Schock! Alles hätte Sabine vermutet, aber nicht das!
„Aber wieso? So erzähl’, erzähle doch!” Drängte Sabine unnachgiebig ihre Schwester – oder sollte sie ‚Mutter’ zu ihr sagen?
Hanna holte tief Luft und begann zu berichten: „Weißt du, dein Vater hat mich seit meinem zwölften Lebensjahr regelmäßig sexuell missbraucht. Fast jeden Freitag, wenn er von der Arbeit um drei nachmittags nach Hause kam und Mutter in der Heißmangel beim Bügeln unserer Wäsche mitgeholfen hat, dann hat Vati mich gefickt, dass die Fetzen flogen. Ich habe mich so geschämt, dass ich Mutter nichts gesagt habe. Und sie hat auch nie was gemerkt, bis ich mit dreizehneinhalb langsam einen dicken Bauch bekam. Zuerst hat Vater alles abzustreiten versucht, als Mutter erkannte, dass ich nicht nur ‚stark’, sondern schwanger war. Aber Mutter hat in mich insistiert, bis ich ihr gestanden habe, dass Papa mich regelmäßig missbraucht und besamt hat!”
Sabine blieb die Spucke weg! Dass ihr Vater ein Schürzenjäger war, hatte sie schon seit jungen Jahren mitgekriegt, aber dass er seine eigene Tochter Hanna …, nein, das durfte doch nicht wahr sein! Als sie sich wieder etwas gefangen hatte, sagte sie zu Hanna: „Dann bist eigentlich du meine richtige Mutter?”
„Ja, genau, Sabine! Du bist das Produkt aus mir und unserem Vater.”
„Aber wie konntet ihr mich aufziehen, ich war doch dann unehelich und … und ..”
„…ein Bankert, der aus einer inzestuösen Beziehung entstanden ist, ja!” Ergänzte Hanna den Satz.
Sabine musste sich auf Bett niederlegen, so war ihr der Schreck in die Beine gefahren. Tränen standen in ihren Augen. Sie war ein Bankert, und ein inzestuöser dazu!!!
Hanna versuchte sie zu trösten: „Schwesterchen, zwischen dir und mir hat sich doch damit nichts verändert. Nach außen hin bist und bleibst du meine ‚kleine Schwester’. Niemand außer unseren Eltern, mir und jetzt dir weiß etwas von diesen Umständen! Mutter hat, um einen Skandal zu vermeiden, den Vorschlag gemacht, dich, wenn du geboren bist, als ihr Kind, als Nachzügler, auszugeben, damit du nicht als Bankert giltst und der inzestuöse Missbrauch nicht ans Tageslicht käme. Und da es eine Hausgeburt ohne ärztlichen Beistand und ohne eine Hebamme war, konnte Mutter so tun, als habe SIE das Kind zur Welt gebracht. Gen-Tests waren damals in den Siebzigerjahren noch nicht praktikabel. Jedenfalls musste Papa schwören, mich nie wieder ‚anzufassen’, wie Mutter das nannte. Und so wurdest du als das eheliche Kind der Eheleute Herbert und Roswitha Hergenröder eingetragen. Übrigens hat Vater seinen Schwur gehalten und mich nie wieder belästigt, im Gegenteil, er war seitdem immer sehr lieb und fürsorglich zu mir!”
Sabine hatte sich durch das tröstende Streicheln ihrer „Schwester” Hanna und ihrer Versicherung, alles bleibe so wie bisher, etwas beruhigt. Da läutete es plötzlich an der Haustür. Scheinbar öffnete Mutter ahnungslos in der Meinung, es sei Herbert, der wieder mal im Suff seinen Schlüssel nicht finden konnte, die Haustür. Dann hörten Hanna und Sabine einen schrillen Schrei von Mutter Roswitha und zwei Männerstimmen im Hausflur.
Die Schwestern stürzten nach unten, um zu sehen, was die Mutter so hatte aufschreien lassen. Da standen zwei Polizisten in der Küche und machten ein trauriges Gesicht. Mutter war auf dem Küchenstuhl kreidebleich zusammengesunken …
* *
All diese Erinnerungen stürzten nun wieder auf Sabine im Bett ein. Ja, Vater war ein Inzestvergewaltiger, ordinäre und böswillige Leute würden ihn einen „Kinderficker” nennen, und trotzdem hatte sie ihren Vater, dessen leibliches Kind sie doch gewesen war, geliebt und seinen Tod sehr betrauert. Aber sicher hatte er seine Gene auch an sie weitergegeben. Ist Inzest denn erblich? Gibt es ein Gen dafür, das in der Erbmasse weitergegeben werden kann? Sabine wusste weder Rat noch eine plausible Erklärung dafür.
Und jetzt ihr Sohn Bruno. Er hatte wie sie selbst wohl auch einen Hang zum Inzest. Woher? Warum, wieso?
Fragen über Fragen. Und übers Grübeln schlief Sabine nach einem ereignisreichen, aber auch anstrengendem Tag ein.
Fortsetzung folgt