Teil 01-04 :
Teil 05-07 :
Teil 08-10 :
11. Krebs
Zwei Jahre hielt das Glück zwischen den Dreien, als Silke eines Tages zwischen Angela und Christoph eine Veränderung feststellte.
Beide kamen mit todernsten Mienen nach Hause und ließen das Essen einfach stehen. Sie redeten nicht miteinander, starrten nur so vor sich hin und beachteten Silke überhaupt nicht. Silke beschloss, diese Nacht in ihrem eigenen Zimmer zu verbringen, zwei oder drei Tage ohne Sperma konnte eine Gummipuppe schon aushalten.
Am nächsten Morgen hatten Angela und Christoph das Haus schon so früh verlassen, dass Silke es gar nicht bemerkte. Sie hatten sich auch nicht bei Silke verabschiedet. Abends wartete Silke vergeblich und das schöne Essen, sie hatte sich an diesem Tag besonders viel Mühe gemacht, blieb unangerührt. Selbst die Linguistikschule blieb geschlossen und die Volkshochschulkurse fielen aus.
Erst nach sechs Tagen kehrten beide zurück und fanden Silke in einem komaähnlichen Zustand auf. Sie war fast verhungert. Christoph musste sofort mit einer Samenspende Wiederbelebungsmaßnahmen einleiten. Zum Glück erholte sich Silke schnell. Christoph blieb die ganze Zeit bei ihr und stillte nach und nach ihren Hunger.
„Sie hat Krebs, im fortgeschrittenen Stadium!”
Silke wusste, dass Krebs bei Menschen eine tödliche Krankheit war, besonders wenn er schon so weit fortgeschritten war. Sie kuschelte sich an Christoph heran.
„Sie wollen es noch einmal mit einer Chemotherapie versuchen, haben uns aber keine Hoffnungen gemacht.”
Silke streichelte Christoph, es war ein deutliches Zeichen, dass sie ihn trösten wollte.
„Und dich haben wir fast vergessen, entschuldige bitte.” Er küsste ihren kahlen Gummikopf.
Am nächsten Tag suchte Silke Angela auf und kuschelte sich auch an sie heran. Angela wusste diese Geste zu schätzen und streichelte wortlos den glatten, schwarzen Körper.
Es wurde in diesen Tagen nicht viel geredet. Angela und Christoph waren täglich zur Untersuchung in der Uniklinik und aßen, wenn überhaupt, dort. Silke bekam ihr notwendiges Sperma. Für Christoph war es eine Art Zwangsvorstellung, er hatte aus Sorge um Angela keine Lust auf Sex, doch Silke musste gefüttert werden.
Angela wurde immer blasser und dünner, durch die Chemotherapie hatte sie ihren Haarschopf verloren, diese herrlich polangen, brünetten Haare, die Christoph so sehr mochte.
Zwei Monate später kam Christoph alleine nach Hause.
„Sie will nicht mehr. Die Chemotherapie wirkt nicht, sie hat nur noch Schmerzen. Sie ist schon so schwach, dass man sie in ein Hospiz gebracht hat. Es geht zu Ende.”
Christoph heulte wie ein Schlosshund.
Silke kniete sich zu ihm und legte ihren Kopf in seinen Schoß. Ihr Hunger konnte warten, jetzt musste sie für einen Freund da sein. Plötzlich kam ihr ein Gedanke.
„Du liebst sie wirklich sehr. Als Mensch wird sie sterben, aber als Gummipuppe könnte sie weiterleben”, sagte sie ihm in Gebärdensprache.
Christoph sah sie ungläubig an. „Was meinst du damit?”
„Tanja sagte uns damals: Ewiges Leben, keine Krankheiten mehr. Der Retrovirus könnte den Krebs besiegen!”
„Du willst ihr von deiner Milch geben? Aber das ist doch verboten!”
„Ist dir deine Liebe das nicht wert?”
Doch, das war es. „Wir versuchen es!” entschied Christoph und fuhr mit Silke sofort zum Hospiz. Der dortige Chefarzt war ein guter Bekannter der Beiden und Silke hatte er auch schon auf einer Party kennen gelernt.
„Das kann ich nicht machen!” sagte der erschreckt, als er von Christoph erfuhr, was sie vorhatten.
„Als Arzt hast du den Eid des Hippokrates geschworen, jedes Leben zu erhalten, und das ist eine Möglichkeit! Du brauchst ja nicht dabei zu sein, wir als ihre Freunde werden doch mit ihr allein sein dürfen, oder?”
Der Chefarzt verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. „Nicht hier im Hospiz.”
„Dann bringen wir sie zu uns nach Hause!”
Damit war der Arzt einverstanden. Er bestellte einen Rettungswagen, mit dem die Sterbende zum Bauernhof transportiert wurde. Er begleitete sie und legte ihr in ihrem Schlafzimmer die Kanülen neu an. Christoph wurde noch instruiert, wie und wann er die Infusionen zu wechseln hatte, aber das kannte er noch aus seiner Zeit als Zivildienstleistender.
„Wenn es soweit ist, benachrichtigt ihr mich.” Der Arzt verabschiedete sich und fuhr im Rettungswagen zum Hospiz zurück.
Angela lag wie in Trance da. Der Krebs und die schmerzstillenden Medikamente hatten sie in einen Dämmerzustand fallen lassen. Silke hatte bereits damit begonnen, ihre Brüste auszupressen. Christoph war es dann, der Angela die volle Tasse verabreichen wollte.
„Trink, Liebste, trink!” Angela bekam die zähe Flüssigkeit in den Mund gegossen und versuchte instinktiv zu schlucken. Tatsächlich nahm sie alles zu sich, spukte aber kurze Zeit später den Großteil wieder aus.
„Es hat keinen Zweck!” resignierte Christoph.
„Wir versuchen es später noch einmal”, deutete Silke ihm.
Sie konnte zweimal täglich Milch geben und so warteten sie einen halben Tag, um einen erneuten Anlauf zu nehmen. Wieder spukte Angela einen Teil der Milch wieder aus, aber es war diesmal deutlich weniger. Am nächsten Tag behielt sie sogar alles für sich. Ein gutes Zeichen? Es bildeten sich keine Fasern und Angela fiel in einen tiefen Schlaf. Ab und zu hatte sie einen wachen Moment, den Silke nutzte, ihr ihre Milch direkt in den Mund zu spritzen.
Angela glühte. Sie hatte hohes Fieber. In ihrem Körper war ein gnadenloser Kampf zwischen dem Retrovirus und dem Krebs entbrannt. Christoph und Silke waren fast rund um die Uhr an ihrem Bett. Wenn er zu müde war, zog er sich in ein Gästezimmer zurück. Zwischenzeitlich wurde Silke „gefüttert”.
Da Gummipuppen kaum Schlaf brauchen, saß Silke die meiste Zeit an Angelas Bett. Wieder hatte Angela einen lichten Moment und Silke gab ihr die Brust, als Silke die ersten Fasern entdeckte. Sofort weckte sie Christoph und gemeinsam schleppten sie die Kranke zu einem eigens gebauten Kokongerüst. Es dauerte fast einen ganzen Tag, bis der Kokon fertig war. Wie lange würde jetzt die Metamorphose dauern? Angela hatte ja nur wenig Gummimilch zu sich nehmen können. Und wie würde der Krebs die Umwandlung beeinflussen?
Es blieb nichts anderes übrig, als abzuwarten. Aber es bestand Grund, sich Hoffnungen zu machen. Immerhin hatte sich – wenn auch nur langsam – ein Kokon gebildet.
Christoph und Silke schauten mit Optimismus in die Zukunft. Es war möglich, dass Angela überleben konnte. Aber sie mussten mit einer langen Wartezeit rechnen.
Als nach exakt 289 Tagen Christoph morgens erwachte, machte sich die Gummipuppe gerade mit ihrer Schlangenzunge heran, den „kleinen” Christoph wiederzubeleben. Der ließ auch nicht lange auf sich warten und ragte bald senkrecht in den Himmel. Nachdem die Gummipuppe ihm sämtliche Samenblasen leer gesogen hatte bemerkte Christoph, dass sie gar kein Halsband trug. „Angela, bist du das?”
Tatsächlich war Angela in dieser Nacht ihrem Kokon entstiegen. Silke hatte, als Christoph bereits fest schlief, mit ihrem empfindlichen Gehör wahrgenommen, dass die Fasern des Kokons von innen aufgerissen wurden. Sie war sofort zu Angela geeilt, um ihre neue Schwester in der Welt der Gummipuppen willkommen zu heißen. Angela war glücklich, den Krebs besiegt zu haben und jetzt eine Gummipuppe zu sein. Beide beschlossen, Christoph auf die dann erfolgte Weise zu überraschen.
Während Christoph und Angela im Bett ihr Wiedersehen feierten, stand Silke etwas nachdenklich in der Tür. Bislang hatte Christophs Samen für sie gereicht, jetzt musste er zwei Gummipuppen ernähren.
12. Recht haben und Recht bekommen
Tatsächlich vernachlässigte Christoph Silke unbewusst und vergnügte sich ausschließlich mit Angela. Die wollte ihrer Schwester aber nichts vorenthalten und ließ sich von ihr die noch nicht absorbierten Samen aus ihren Körperöffnungen lecken. Das war zwar wenig, aber ausreichend für Silke.
Auf Christoph dagegen kamen andere Probleme zu. Angela war als Mensch tot, aber er hatte keinen Totenschein. Den konnte ohne Leiche kein Arzt ausstellen. Zudem hatte er jetzt eine zweite, nicht registrierte Gummipuppe.
Das letztere Problem war eigentlich das einfachste. Er besorgte ein weiteres Stahlhalsband, das gleiche wie Silke es trug, nur diesmal mit einem D-Ring statt des O-Ringes. So konnte er beide voneinander unterscheiden. Natürlich ließ er Silkes Registrierungsnummer in Angelas Halsband gravieren. Die nächste amtliche Überprüfung sollte so ohne Schwierigkeiten ablaufen.
Zum Thema Totenschein kam er aber nicht mehr. Plötzlich stand das Ordnungsamt in Polizeibegleitung vor seiner Tür. Der Graveur hatte ihn angezeigt. Es war ihm seltsam vorgekommen, eine bereits vergebene Registrierungsnummer auf ein neues Halsband, ohne amtliche Bescheinigung, anbringen zu sollen. Da musste jemand i*****l eine Frau zur Gummipuppe gemacht haben.
Tatsächlich fanden die Ordnungshüter Silke mit ihrem echten und Angela mit ihrem gefälschten Halsband. Christoph leugnete die Tat gar nicht erst. Alle drei wurden abgeführt.
Christophs Anwalt Dr. Cramer war ein guter Freund von Angela gewesen. Er hatte sie leiden gesehen und wollte Christoph auf alle Fälle verteidigen, gegebenenfalls bis hin zum Bundesgerichtshof. Zunächst wurde die Anklage angezweifelt. Nicht Christoph sondern Silke hatte schließlich die Idee zur Metamorphose und sie war es, die der Todkranken ihre Milch direkt in den Mund spritzte.
Die Zeit bis zur Hauptversammlung fiel den Drei sehr schwer. Christoph war in Untersuchungshaft und vermisste seine beiden Gummipuppen. Silke und Angela wurden wieder ins Labor auf dem Universitätsgelände gebracht und ernährten sich dort von „Studentenfutter”. Aber sie wollten die Zeit dort nutzen. Angela nahm Kontakt mit dem Chef der Uniklinik auf. Gemeinsam mit ihm wollten die beiden Gummipuppen das Geschehene Revue passieren lassen. Leider beherrschte der Dr. Eckert die Gebärdensprache nicht, so dass man noch einen Dolmetscher hinzuziehen musste.
Was war denn eigentlich geschehen? Angela, eine Menschen-Frau, wurde in eine Gummipuppe verwandelt. Gut, das war die Aufgabe des Retrovirus. Aber Angela, die Menschen-Frau, war schwer krebskrank und Angela, die Gummipuppe, war kerngesund. War die Gummimilch das lang gesuchte Mittel gegen Krebs? Würde der Retrovirus auch bei männlichen Krebskranken wirken? Vor der Metamorphose waren Männer doch durch ihr Y-Chromosom immun. Das konnte man nur durch einen Versuch feststellen.
Auf der Kinderkrebsstation lag gerade ein neunjähriger Junge mit Knochenmarkkrebs. Es hatte sich, trotz Aufrufe in Presse, Funk und Fernsehen, kein geeigneter Spender gefunden. Der Junge lag jetzt im Sterben. Seine Eltern waren verzweifelt.
Dr. Eckert nahm sich vor, mit den Eltern zu sprechen. Er wollte ihnen als letzten Versuch eine Gummimilch-Therapie vorschlagen, natürlich ohne Aussicht auf Erfolg. Aber es würde einen Versuch wert sein. Das Elternpaar sah dies als letzten Strohhalm der Hoffnung an und sie willigten ein. Sie hatten bisher Vorurteile gegen die Gummipuppen gehabt und misstrauten ihnen, aber jetzt wären sie vielleicht die Rettung für ihren Sohn. Sie waren dabei, als Silke und Angela ihre Brüste auspressten. Die Mutter persönlich verabreichte ihrem Kind die Gummimilch. Der Junge konnte nicht alles zu sich nehmen und fiel ins Koma. Wie bei Angela wachte jetzt Silke am Krankenbett und spritzte ihm in wachen Momenten wieder ihre Milch direkt in den Mund.
Der Junge bekam hohes Fieber, sein Körper kämpfte gegen die tödliche Krankheit. Täglich wurden ihm Blutproben entnommen mit unverändertem Befund. Das war an sich schon ein Erfolg. Und tatsächlich, nach einer Woche verbesserte sich das Blutbild zunehmend und die Temperatur ging langsam zurück. Ein paar Tage schlug er die Augen wieder auf. Er war zwar schwach, aber ansprechbar. Die Knochenmarkkrebs-Symptome waren nicht mehr zu erkennen. Er war geheilt! Seine Eltern waren überglücklich und danken den Ärzten. Die verwiesen aber auf die Gummipuppen.
Der Beweis war erbracht, das Retrovirus tötete den Krebs! Bei männlichen Menschen ohne Nebenwirkungen und bei Frauen … die Metamorphose. Auf alle Fälle hatte man jetzt für die Verhandlung gegen Christoph einen Trumpf in der Hand.
Endlich sollte der Prozess stattfinden. Die Öffentlichkeit zeigte ein reges Interesse, war es doch das erste Verfahren wegen „unerlaubter Durchführung einer Metamorphose zu Ungunsten eines menschlichen Wesens”. Die Plätze im Gerichtssaal waren bereits zwei Stunden vor Verhandlungsbeginn besetzt, Reporter der unterschiedlichen Medien aus dem In- und Ausland waren ebenfalls vertreten.
Christoph war der einzige Angeklagte. Silke war ja kein Mensch, für sie galt das Tierschutzgesetz, und ein Tier konnte nicht vor Gericht gestellt werden. Die Staatsanwältin legte Christoph zur Last, er hätte Angela eigenwillig und eigenmächtig sowie aus minderen Beweggründen in eine Gummipuppe verwandelt. Die Verteidigung bestritt dies und schob die ganze Verantwortung auf Silke. Weiterhin hätte man Angela das Leben gerettet.
Die Argumente flogen hin und her, man verstrickte sich in Einzelheiten, bis Dr. Cramer die Vernehmung der anderen beiden Beteiligten, Silke und Angela, beantragte. Zur Überraschung des Richters schloss sich die Staatsanwältin dem Antrag an. Dem Richter blieb nichts anderes übrig, als dem zuzustimmen, aber er ahnte schon, was da auf ihn zukommen sollte, denn man schuf dadurch einen Präzedenzfall. Erstmals wurden Gummipuppen Menschen vor Gericht gleichgestellt!
Die Vernehmung der Gummipuppen verlief reibungslos, Dr. Cramer hatte in weiser Voraussicht einen Gebärdendolmetscher bestellt. Silke und Angela waren zunächst verwirrt, sie erkannten in der Staatsanwältin die Mutter des Jungen, den sie vom Krebs geheilt hatten, ließen ich jedoch nichts anmerken. Auch die Staatsanwältin verzog keine Miene.
Silke bestätigte, dass Angelas Metamorphose ihre Idee war und dass ausschließlich sie ihre Milch der Kranken verabreicht hatte. Christoph hatte lediglich beim Verpuppen helfend zur Seite gestanden. Angela sagte aus, dass sie dem Tode sehr nahe gewesen war und den „weißen Tunnel” schon vor Augen gehabt hatte. Die Gummimilch war ein Heilmittel gegen den Krebs, das wurde ja zwischenzeitlich in der Uniklinik bewiesen, also hatte man ihr nur ein Naturheilmittel verabreicht.
Die Beweisaufnahme wurde abgeschlossen und die Plädoyers waren kurz. Die Staatsanwältin beantragte zur Überraschung aller Anwesenden die Einstellung des Verfahrens, die Verteidigung Freispruch und Haftentschädigung. Der Richter aber erklärte sich für nicht mehr zuständig und verwies das Verfahren an die nächst höhere Instanz. Das war eine Sensation und ein Skandal zugleich! Dieser Ausgang des Prozesses sorgte überall für Aufregung und Diskussionen. Hatte der Richter da nicht etwas falsch gemacht, indem er sich vor einer Entscheidung drückte? Der Druck der Medien war so groß, dass der Generalbundesanwalt umgehend eine Entscheidung vor dem Bundesgerichtshof erwirken wollte. Der aber gab den Ball an das Bundesverfassungsgericht weiter, denn durften Lebewesen, die unter die Zuständigkeit des Tierschutzgesetzes fielen und somit im eigentlichen Sinne Tiere waren, überhaupt vor einem menschlichen Gericht wie ein Mensch aussagen?
Das Bundesverfassungsgericht fällte ein Grundsatzurteil. Wie sich gezeigt hatte, waren die Gummipuppen intelligente, mitfühlende Wesen, die sich in ihrer Verhaltensweise von Tieren grundsätzlich unterschieden. Sie handelten aus eigenem Denken heraus, nicht aus bloßem Instinkt. Von daher durften sie nicht unter die Zuständigkeit des Tierschutzgesetzes gestellt werden. Andererseits waren sie aber auch physiologisch keine Menschen und konnten nicht als solche bezeichnet werden, auch nicht, wenn sie früher einmal Menschen gewesen waren. Artikel 3, Absatz 3 des Grundgesetzes aber lautete: „Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.” Dieser Artikel enthielt nicht explizit das Wort „Mensch”, daher bezogen sich die Begriffe „Abstammung” und „Rasse” auch auf die Gummipuppen. Man musste einfach der Tatsache Rechnung tragen, dass es jetzt zwei unterschiedliche, intelligente Spezies auf der Erde gebe. Von da her mussten Gummipuppen und Menschen gleichgestellt werden. Bundestag und Bundesrat wurden verpflichtet, die entsprechenden Gesetzesänderungen durchzuführen.
Es gab nicht nur Beifall sondern auch derbe Kritik für dieses Urteil. Eiferer sämtlicher Religionen sahen in den Gummipuppen die „Ausgeburt des Satans”, mussten sich aber schließlich damit abfinden, dass Staat und Kirche in Deutschland getrennt waren. Selbst die Damen des horizontalen Gewerbes protestierten, fürchteten sie doch die Konkurrenz von billigen Huren, die ihnen die Preise verderben würden.
Die Gleichstellung begann trotzdem. Der erste Satz des Artikel 1 Grundgesetz lautete nun: „Die Würde des Menschen und der Gummipuppe ist unantastbar.” Die Gummipuppen brauchten nicht mehr registriert zu werden und durften sich frei in der Öffentlichkeit bewegen. Sie erhielten auch das aktive und passive Wahlrecht. Alles in einem waren sie nun deutsche Staatsbürger mit allen Rechten und Pflichten. Das Ausland war empört. Die meisten Staaten verschärften ihre Anti-Gummipuppen-Gesetze, einige brachen sogar die diplomatischen Beziehungen zu Deutschland ab. Deutschland drohte, isoliert zu werden, was die Entwicklung aber nicht behinderte.
Es wurde ein Gummipuppen-Bundesamt ins Leben gerufen, deren erste Leiterin überraschend eine menschliche Frau war, die sich aber sehr für die Gleichberechtigung der Gummipuppen einsetzte, denn es war die ehemalige Staatsanwältin aus Christophs Prozess.
Die medizinische Forschung ging weiter und man stellte fest, dass der Retrovirus nicht nur den Krebs sondern auch das HIV erfolgreich bekämpfte. Man war also in der Lage, die beiden größten Geißeln der Menschheit auszurotten. Allerdings wurden die weiblichen Patienten dabei in Gummipuppen verwandelt. Sollte man wirklich zig Millionen Gummipuppen auf der Welt erschaffen oder die Population dieser Spezies in Grenzen halten. Wollte man den Frauen ein Heilmittel vorenthalten, das den Männern verabreicht werden konnte? Die Forschungsergebnisse wurden erst einmal als streng geheim eingestuft und weggeschlossen.
13. Zeitsprung
Das alles hatte sich vor über 100 Jahren ereignet. Jetzt, im Jahre 2157 leben in der Europäischen Region, die einstmals „Bundesrepublik Deutschland” hieß, 100 Millionen Menschen und etwa 500.000 Gummipuppen.
Die heilende Wirkung der Gummimilch hatte man in den vergangenen Jahrzehnten nicht länger geheim halten können und so wurde die „Gummimilch-Therapie” freigegeben. Allerdings muss die Behandlung beantragt werden. Die erkrankten Frauen werden eingehend über die dann erfolgende Metamorphose aufgeklärt, müssen an mehreren, intensiven Beratungsgesprächen teilnehmen und abschließend schriftlich ihr Einverständnis zur Umwandlung geben. Behördlich gesehen ist es das gleiche Verfahren wie bei Transsexualität. Aus „solidarischen” Gründen müssen auch Männer die Therapie beantragen, diese Anträge werden aber in der Regel bewilligt. Es musste bald eine Altergrenze eingeführt werden, die Anzahl der Anträge stieg ins Unermessliche und man muss einer drohenden Überbevölkerung entgegentreten.
Aufgrund ihrer Verdienste um die Gesundheit der Menschen sind die Gummipuppen inzwischen von der menschlichen Gesellschaft voll akzeptiert worden. Es gibt kaum noch Probleme zwischen den zwei Spezies. Auch außerhalb Deutschlands leben nunmehr etwa 100.000 Gummipuppen. Viele Staaten haben ihre Anti-Gummipuppen-Gesetze gelockert oder ganz gestrichen. Der Wunsch ihrer Völker auf Erfolge gegen Krebs und HIV übte so viel Druck auf ihre Regierungen aus, dass auch dort die Gleichberechtigung der Gummipuppen Einzug hielt. Selbst die UNO änderte die Menschenrechtskonvention in die Menschen- und Gummipuppenkonvention.
Vorreiter für ein friedliches Miteinander war aber Deutschland, das „Land der Gummipuppen”. Auf den Straßen flanieren Menschen und Gummipuppen. Um bei den Menschen, die nach wie vor den Anblick von unbedeckten Genitalien missbilligten, keinen Anstoß zu erregen, fingen die Gummipuppen an, sich zu bekleiden. Die Modeindustrie hat in ihnen eine neue, dankbare Klientel gefunden, schließlich waren sie früher ja einmal Menschen-Frauen und das „Einkaufen-Gen” hat das Retrovirus scheinbar nicht deaktiviert. Zur Zeit in Mode sind enge Kleidchen oder Overalls aus Stretchlack in Weiß, Gold oder Silber. Der Penisschweif ragt dabei aus diesen Kleidungsstücke durch ein Loch heraus und seine Spitze wird mit einer Art „Pudelmütze” mit gleichfarbigen Fransen bedeckt. Viele Gummipuppen färben ihren Gummizopf in den aktuellen Trendfarben. Schuhe brauchen sie ja nicht, aber Gamaschen sind einfach „in”. Diese Mode hat auch auf die Menschen-Frauen übergegriffen, vor allem bei den jungen. Um die engen Gummipuppen-Kleider tragen zu können, lassen sie sich in Korsetts einschnüren. Gerne wird auch eine schwarze Latex-Maske getragen. Der absolute Gag aber ist, dass Frau sich zudem einen Gürtel mit einem künstlichen Penisschweif umschnallt, der über sich durch einen eingebauten Elektromotor bewegen lässt. Das ist nicht nur modisch aktuell, sondern auch in einsamen Nächten für diese Damen sehr (selbst-) erregend.
Menschen und Gummipuppen gehen gemeinsam zur Schule, Gebärdensprache ist zum Pflichtfach geworden. Der Berufswunsch vieler kleiner Mädchen ist „Gummipuppe”.
Offiziell Gummipuppe werden können aber nur todkranke Frauen mit Hilfe der behördlich genehmigten Gummimilch-Therapie. In der Halbwelt wird der Wunsch auf Metamorphose dagegen ohne Fragen und sofort erfüllt. Diese Frauen haben nicht die Gelegenheit, sich das Ganze noch einmal in Ruhe zu überlegen (als Gummipuppen bereuen sie es ohnehin nicht mehr) und verschwinden dann jahrelang aus der Öffentlichkeit. Sie werden meist als Huren ausgenutzt und erlangen erst nach Jahren oder Jahrzehnten ihre Freiheit, wenn ihre „Eigentümer” verstorben sind oder sie durch eine Razzia befreit werden.
Ansonsten sind die Gummipuppe inzwischen in fast allen Berufsgruppen vertreten. Ihr überdurchschnittlich hoher IQ prädestiniert sie für Forschungsaufgaben. Auch an vielen Universitäten und Fachhochschulen lehren Gummipuppen.
Angela ist eine Kapazität für die Biologie der Gummipuppen geworden und hat ihre eigene Spezies gründlich erforscht. Ihre Aufzeichnungen sind zum Standardwerk geworden. Nur das Retrovirus hat sie nicht isolieren können. Dafür ist es ihr gelungen, eine Ersatznahrung, sprich: künstliches Sperma, zu entwickeln.
Silke und Angela haben Christoph überlebt. Er starb mit 70 Jahren, mitten beim Sex (was konnte es Schöneres für ihn geben?). Bis zuletzt hatte er die Manneskraft eines 20-jährigen – eine positive „Nebenwirkung” des häufigen Kontaktes mit seinen Gummipuppen – doch sein übriger Körper machte einfach nicht mehr mit. Silke und Angela trauerten nicht, Gummipuppen können nicht trauern.
Christoph hatte in seinem Testament verfügt, seine Linguistikschule in eine Stiftung umzuwandeln, die von Silke zu leiten ist. Angela ist ja nach wie vor im Biologischen Institut beschäftigt. Trotzdem, so hatte Christoph verfügt, sollten beide weiter zusammen bleiben. Es dauerte nicht lang, als sie wieder einen Mann in ihre Gemeinschaft aufnahmen. Das künstliche Sperma reicht zwar, aber die natürliche Nahrungsaufnahme macht doch eindeutig mehr Spaß
Angelas neueste Untersuchungsergebnisse beweisen, dass auch Gummipuppen altern. Nicht so schnell wie die Menschen, aber sie sind nicht unsterblich. Sie haben etwa die zehnfache Lebenserwartung und werden dann, im Moment ihres Todes, schlagartig vulkanisieren und das Abbild einer Nana von Niki de Saint Phalle abgeben. Bis es aber soweit ist, werden noch einige Jahrhunderte ins Land gehen.
ENDE