Sandra erlang etwas von ihrer Fassung zurück. Trotz der plausiblen Erklärung fühlte sie sich hintergangen und ihre Wut tobte gegen ihr Mitleid. Erst war ihr ein Stein vom Herzen gefallen, so als könnte der Umstand, dass diese Frau bereits tot war, ihr gereichen, ihr altes Leben wiederherzustellen. Aber ihre Empörung kam schleichend zurück.
„Wie hast du es erfahren? Hast du sie … etwa … gefunden?”
„Nein, der Sozialarbeiter hat mich informiert. Es tut so weh, darüber zu reden, verdammt. Ich kann nicht mehr. Ich hätte viel früher mit dir darüber reden müssen. Ich muss die Trauer mit dir teilen, alleine schaffe ich es wohl nicht.”
Sandra sagte nichts dazu und sah ihn ernst an, als er fortfuhr:
„Ich würde dir gern ihr Grab zeigen. Bitte, begleite mich zu ihrem Grab. Versuche bitte, mich und diese ganze Tragödie zu verstehen. Unsere kleine Familie soll nicht daran zerbrechen. Bitte.”
Sie nahmen ein Taxi und fuhren zum Friedhof. Nieselregen hatte eingesetzt. Hohe Nadelbäume verdunkelten ihren Weg. Er zeigte ihr das Grab, es war überhäuft mit frischen Blumen, als wäre sie erst dieser Tage beigesetzt worden. Blühend wie das Leben und traurig wie der Tod. Vor dem Grab ging er auf die Knie, nahm eine Gebetshaltung ein und weinte.
Sie kniete sich daneben in das feuchte Gemisch aus Sand und Kies. Sie betrachtete das Grab und die Inschrift des großen Steins, der durch die windgeschützten Kerzen beleuchtet wurde. Die ausgefrästen Buchstaben leuchteten durch die Reflexion unheimlich, die Illumination sah aus, als käme sie aus dem Stein selbst. Sie las die verschnörkelte Schrift.
“Das ist ja ein Doppelgrab! Sie sind am gleichen Tag geboren und auch gestorben. Sie waren Zwillinge. Oder?” Sie klang überrascht. Aufregung machte sich in ihr breit. Diese Geschichte wurde immer größer. Wieder kam der Druck und sie war kurzzeitig völlig desorientiert. Aber sie fing sich.
Sie standen auf. “Ja, sie waren Zwillinge. Die hübsche, weise Johanna und die schöne Marie.”, sagte er düster.
“Sie haben sich beide den goldenen Schuß gesetzt, zusammen?”
“Ja, so ist es leider geschehen.”
“Und sie war drogensüchtig und ihr wart zusammen? Das passt so gar nicht zu dir.” Sie fragte sich, was sie überhaupt über ihn wusste.
“Wir waren nicht mehr zusammen. Sie hatte die Beziehung zu mir schon lange beendet, sie hatte auch keinen anderen, sie lebte plötzlich nur noch … für die Drogen. Es gab… Ach, egal, auf jeden Fall fingen beide mit dem Scheiß an und ich war außen vor. Ich besuchte sie manchmal, unterstützte sie, später auch finanziell, half dem Sozialarbeiter und ihren Eltern, sie zum Entzug zu überreden. All so einen Mist halt. Ihre Schwester hasste mich, glaube ich jedenfalls. Bitte, lass uns gehen, jetzt. Komm.” Seine Augen spiegelten Schmerz und Trauer und Wut.
Auf dem Rückweg entschuldigte sie sich nochmals bei ihm, obwohl sie nicht sicher war, dass sie es auch tatsächlich so meinte. Als sie das Grab weit genug hinter sich gelassen hatten, küssten sie sich. Die Dämmerung war bereits fortgeschritten und sie versuchten ihre Leidenschaft wiederzufinden. Aber Sandra konnte den Kuss nicht genießen, er schmeckte fremd und fad und bitter.
Kurz vor Mitternacht trennten sie sich am Taxistand, sie musste und wollte wieder zu Dennis und Lidia, bei ihnen war ja ihre Johanna. Johanna! Unter diesen Umständen, dachte sie, könnte sie sich vielleicht mit der Situation arrangieren. Sie verstand seine Beweggründe sogar. Er wollte eine Johanna, die lebt. Doch die Wut flackerte in ihr immer wieder auf. Zum Abschied küssten sie sich nochmals, er wollte sehr liebevoll sein, aber es kam nicht bei ihr an. Sie spürte wenig Neigung seinen Kuss zu erwidern, ließ diesem Gedanken aber keinen Raum und machte gute Miene zum bösen Spiel.
Trotz ihrer Missstimmung keimte die Hoffnung in ihr, ihre Familie wieder zusammenführen zu können. Sie dachte, dass ihre Wunden heilen könnten und sie ihr gemeinsames Leben fortsetzen würden. Ihre widersprüchlichen Gefühle zerrissen sie fast, als sie an Lidia dachte, schließlich jedoch gewann das jahrelange Ziel einer intakten Familie die Oberhand ihrer Gedanken. Ihr einstiger Lebensentwurf setzte sich durch. Sie verankerte es fest und handelte danach, als sie sagte:
“Ich komme morgen wieder zurück. Willst du das auch?”
“Ich brauche euch so sehr. Wie ich mich freue.”, sagte er und streichelte ihre Wange zärtlich. Sie konnte den Schmerz und die Traurigkeit in seinen Augen sehen. Sie spürte, wie er noch immer unter den damaligen Ereignissen litt.
Als sie im Taxi saß, überlegte sie, ob seine Trauer nicht überzogen war, schließlich war es doch mehr als sieben Jahre her. Sie schloss ihre Augen und ihre Gedanken verirrten sich. Sein schmerzverzerrtes Gesicht vor dem Grab im Nieselregen. Die Zwillinge. Wie hatten sie ausgesehen? Wer waren sie gewesen? Ihre Neugier war erwacht. Ihre Tochter hieß Johanna, also hatte sie ein Recht, es herauszufinden.
Sandra versuchte, sich zu entspannen. Sie dachte an Johanna. Plötzlich fiel ihr erneut Lidia ein und ihr Herz rutschte in die Hose. Sie fühlte sich unendlich schlecht. Sie würde ihr heute die Wahrheit sagen müssen, dass sie zurückgeht, und Lidia würde enttäuscht sein und schrecklich leiden. Sandra wusste, dass sie selbst fast genauso stark leiden würde, und schon beim Gedanken daran, es Lidia zu sagen, wurde ihr Hals trocken und Feuchtigkeit drückte in ihre Augen.
Dennis und Lidia waren noch wach, Johanna schlief bereits selig, Lidia hatte sie erfolgreich zu Bett gebracht. Sandra setzte sich zu ihnen und nahm sich von dem Wein, der offen auf dem Tisch stand. Sie erzählte langsam die ganze Geschichte und schaute dabei abwechselnd in die Gesichter ihrer Zuhörer. Sie litt während ihres Berichtes und zusätzlich nagte das schlechte Gewissen an ihr, dass sie Lidia so viel Hoffnung gemacht hatte. Sandra trank ihr Glas aus und kippte ein weiteres in einem Zug weg um fortzufahren:
“Ja, wir werden wieder eine Familie. Ich und Johanna ziehen morgen nach Hause, zu ihrem Papa. Irgendwie bleibt ein komischer Geschmack in dieser Sache, aber es wird schon wieder.”
Sandra staunte, wie gefasst Lidia blieb. Als Dennis zur Toilette verschwand, fragte Lidia: “Was ist nun mit uns? Was ist mit mir? War es das jetzt?”, fragte Lidia und nahm wie selbstverständlich ihre Hand. Die Berührung elektrisierte Sandras ganzen Körper.
“Ich weiß es nicht.”, antwortete Sandra.
Als Dennis wiederkam entzog sie Lidia die Hand und fragte: “Ist morgen einer von euch da, der mir helfen kann? Ist jetzt doch einiges an Sachen zusammengekommen. Muss ja alles wieder zurück.”
“Ich bin morgen und übermorgen komplett ausgebucht.”, sagte Dennis.
“Wenn ich hier nicht putze, dann hätte ich Zeit…”, sagte Lidia mit fragenden Blick zu Dennis.
“Selbstverständlich okay.”, bestätigte er ihre Idee.
“Gute Nacht, morgen beginnt mein neues, altes Leben. Wir sehen uns zum Frühstück.” Dennis und Lidia wünschten ihr ebenfalls angenehme Nachtruhe und sie legte sich hin und weinte sich in den Schlaf. Sie hörte die beiden noch in der Küche reden und wie Lidias Stimme immer lauter wurde. Er wurde kaum lauter, aber Lidia geriet hörbar in Hysterie.
Später hörte sie ein unglaublich lautes Klirren aus der Küche, Scherben splitterten. Lidia hatte einige Gläser und Teller auf den Boden geworfen. Dann lief sie strammen Schrittes zur Haustür, um diese mit voller Wucht von der anderen Seite zuzuwerfen.
Johanna wachte durch die Geräusche aus der Küche auf und schrie und Sandra wiegte sie in ihren Arm und weinte mit ihr. Sie dachte an die traurige Lidia und die Bitterkeit stieg in ihr auf und sie hinterfragte ihre Entscheidung kritisch. Wollte sie wirklich zu Felix zurück?
Bitterlich schluchzend glitt sie in das Land der Träume. Sie sah die Frau im Kolosseum mit ihrem Kind. Beim genaueren Betrachten bemerkte sie, dass sie selbst dort saß, mit ihrer Tochter Johanna auf dem Arm. Der Löwe kam, war jetzt direkt bei ihnen und er blickte sich noch einmal um. Er trug Lidias Gesicht, nicht nur das Gesicht, es war plötzlich Lidia selbst, die sich auf allen Vieren nährte. Erschreckt wachte Sandra auf, bekam das Bild aber nicht mehr aus dem Kopf.
Erschöpft erwachte Sandra schon gegen sechs Uhr morgens und konnte nicht mehr einschlafen. Neben ihrer Niedergeschlagenheit hatte sie regelrecht Angst davor, dass Lidia heute Morgen nicht kam. So schmerzhaft es werden würde, sie wollte sich unbedingt angemessen verabschieden. Als sie gegen halb neun die Schlüssel im Schloss hörte, fiel ein Stein von ihrem Herzen.
Sie frühstückten gemeinsam, danach machte sich Dennis auf den Weg. Die beiden Frauen machten sich an die Arbeit, während Johanna auf der Kuscheldecke mit einem hölzernen Spielbogen beschäftigt war. Zu zweit hatten sie es schnell geschafft, ihren und Johannas Kram im Auto zu verstauen. Ratlos und verloren standen sie im Flur dicht beieinander.
“War es das jetzt?”, fragte Lidia leise und niedergeschlagen. Ihre Augen glänzten.
Sandra wusste nichts zu antworten und trat noch näher zu Lidia. Wie von Geisterhand fanden sich ihre Lippen zu einem Kuss. Es war nicht dieser wollüstige Kuss mit Zungenspiel, der zum Sex führt. Es war die leidenschaftliche Begegnung der Lippen, voller Vertrauen, Wärme und Zuneigung und vor allem der Bestätigung, dass man füreinander da ist.
“Ich möchte so gerne noch einmal mit dir kuscheln.”, flüsterte Lidia und führte Sandra in das Schlafzimmer. Sie zogen sich aus und legten sich auf das Bett, um sich zu küssen. Dabei fassten sie gegenseitig ihre Gesichter, jeweils mit beiden Händen. Sie wollten sich für alle Ewigkeit so festhalten und sich streicheln und schmecken und anschauen. Die Liebe und der Kummer der bevorstehenden Trennung standen in beider Augen geschrieben.
“Ich werde zu meinem Mann zurückkehren und Johanna eine Familie geben”, erklärte Sandra unsicherer, als ihr lieb war. Eine Träne rollte aus ihrem Auge, und sie fuhr fort:” Aber wir können uns gerne hin und wieder mal sehen. Mein Mann arbeitet viel. Wir könnten uns fast jeden Tag sehen. Viel Zeit und Geld, ja, was wollen wir mehr?” Sie redete sich in Zuversicht und die aufkommende Hoffnung strahlte in ihren nassen Augen.
Leise und weich formulierte Lidia ihre direkten Worte:
“Zweite Geige neben deinem Mann, magst du mir das wirklich antun? Du bist meine Traumfrau, ich würde Alles für dich geben. Aber nicht meinen Stolz. Du verstehst das doch, oder? Das kann ich nicht. Du kannst ihn verlassen. Mich gibt es nur ganz oder gar nicht.” Dabei streichelte sie zärtlich über Sandras Gesicht.
Ein Tröpfchen Milch bildete sich auf Sandras Brustwarze.
“Darf ich ein letztes Mal?”
“Gib mir auch davon, ja?”
Wieder tauschten die Münder die Milch, jeder Tropfen ein Stück Liebe, die sie berauscht verzehrten.
“Willst du dir dreihundert verdienen?”, fragte Lidia keck.
Und wie Sandra dies wollte, sie wollte sogar dreitausend verdienen. Aber Johanna meldete sich und das erste Mal in ihrem Leben verfluchte sie ihren Nachwuchs voller Bitterkeit. Aber nur kurz, wie es die Natur verlangt, schlüpfte sie bald darauf wieder in die für sie vorgesehene Rolle.
Sandra wickelte Johanna auf der Kuscheldecke am Boden, Lidia saß im Schneidersitz daneben und reichte ihr die Dinge, die sie brauchte.
“Würdest du noch einen kleinen Ausflug mit uns machen. Ich würde dir so gerne etwas zeigen, nein, ich muss es dir zeigen. Ein letzter Ausflug, wir drei?”
Lidia stimmte zu, beide wussten, dass sie den Abschied nicht ewig hinauszögern konnten. Es bedrückte ihre Seelen. Sobald das Bild des Abschieds in ihren Kopf kam, schoss Sandra, unter schmerzhaften Kribbeln der Nase, Flüssigkeit in ihre Augen.
Sandra fuhr zum Friedhof und Lidia ahnte ihr Ziel. Auf dem Parkplatz setzte Sandra die kleine Johanna in den Kinderwagen, sie schlief nach weniger als dreißig Sekunden ein. Sandra brauchte ewig, um das Grab von Johanna und Marie zu finden. Sie irrten auf dem Gelände herum und alle Wege schienen gleich auszusehen. Es waren kaum Menschen auf dem Friedhof und als sie sich unbeobachtet wähnten, liefen sie Hand in Hand.
So standen sie dann auch gemeinsam vor dem Doppelgrab.
“Warum zeigst du es mir?”
“Damit du meine Geschichte kennst. Und die meiner Tochter. Damit du mich verstehst, meine Entscheidung nachvollziehen kannst. Damit du mich nicht einfach vergisst.”
„Ich vergesse dich nie, verlass dich drauf.”, sagte Lidia niedergeschlagen.
Sandra versteckte ihr Gesicht hinter ihren Händen und nestelte nach einem Taschentuch. Beide sahen total verheult aus, als sie ihren Weg zum Ausgang und damit den zum Lebewohl beschritten.
“Du kannst an der Ecke ein Taxi nehmen.”
“Ich weiß.”, antwortete Lidia mit seltsam verzerrter Stimme.
Sandra Magen zog sich zusammen, als sie den Ausgang passierten.
“Tschüss, meine Kleine”, flötete Lidia und drückte der schlafenden Johanna einen Schmatzer auf die Wange, als sie sich am Taxistand verabschiedeten. Dann umarmten sich die Frauen und Sandra verlor den Boden unter den Füßen. Beide Frauen weinten hemmungslos und ohne Scham. Sandra spürte, wie ihr diese Affäre über den Kopf gewachsen war. Ihre Kehle schmerzte und ihr lief der Rotz.
“Für das Taxi.”, sagte Sandra und gab Lidia zwanzig Euro, die mit verheultem und zornigem Gesicht den blauen Schein verächtlich auf den Boden warf, um darauf im Taxi zu verschwinden. Sandra blickte hinterher, auch noch, als es längst außer Sichtweite war. Sie lief zu einer Bank und setzte sich, um nicht umzufallen. Sie hielt sich am Kinderwagen fest, als ihre Umwelt ins Trudeln geriet.
Wieder zu Hause
Gegen fünfzehn Uhr kam sie zu Hause an. Fremdartig und weniger einladend als sie in ihrer Erinnerung, empfing ihre Heimat sie. Johanna jedoch schien erfreut, sie lachte und quietschte vergnügt auf ihrem Arm. Johannas Freude linderte Sandras Schmerz und sprach zugunsten ihrer Entscheidung, die Familie aufrechtzuerhalten.
Sie räumte zuerst die gekühlten Milchreserven und dann weitere Sachen an ihre Plätze. Sie wusch sich mehrfach ihr Gesicht, sie versuchte die Trauer abzuwaschen und ihre geschwollenen und geröteten Augen in den Griff zu bekommen. Das moderne Badezimmer kam ihr plötzlich kalt und abweisend vor. Felix würde heute früher als üblich nach Hause kommen, sie wollten ihre Zusammenkunft genießen. Ihr war nicht danach.
Er kam eine Stunde nach ihr und als sie ihn sah, verspürte sie keinerlei Freude. Im Gegenteil, sie hätte genau diese Situation gerne vermieden. In vier Tagen war so viel passiert, wie manchmal nicht in zehn Jahren. Ob er ebenfalls kühler war oder ihre Distanziertheit bemerkte, konnte sie nicht sagen, aber sie spürte deutlich auch seine Befangenheit.
Sie umarmten sich mechanisch und sie fragte sich, was er wohl erlebt hatte. Der Nachmittag wurde zäh, sie hatten sich nicht viel zu erzählen. Sandra war froh, als er zum Laufen rausging. Ihre Tochter lag unter dem Spielbogen und sie saß daneben und starrte ins Nichts. Das Haus erdrückte sie geradezu, die Behaglichkeit von einst konnte sie nicht finden.
Sie dachte an Lidia, stellte sich ihr Gesicht vor, und obwohl die Sehnsucht an ihr nagte, rief sie es immer wieder in ihr Gedächtnis. Voller Bitterkeit dachte sie an ihre gemeinsamen Erlebnisse, roch ihren weiblichen, lieblichen Geruch und hörte ihre sanfte Stimme mit dem Akzent, der für sie plötzlich an Liebreiz nicht zu überbieten war. Als Johanna einschlief, stellte sie den Spielbogen zur Seite, legte ihren Kopf neben den ihrer Tochter und schlief ebenfalls völlig erschöpft ein.
Als er wiederkam und geduscht hatte, legte sie sich in die Badewanne. Sie fing an, sich zu streicheln, doch die Verbitterung überwog jegliche Erregung und so versuchte sie, sich einfach zu entspannen. Als sie das Bad wieder verließ, sah er sie im Bademantel und schritt zu ihr, um sie zu umarmen. Er schob den Bademantel über ihre Schultern, so dass er zu Boden glitt. Er zog sie an sich und streichelte ihren Hintern. Sie wusste, dass er Sex haben wollte.
Auf dem Fußboden gab sie sich ihm hin und dachte dabei an Lidia. Sie stöhnte mit ihm, als er in ihr kam. Sie dachte an Lidia. Schwer atmend lag er auf ihr und Sandra realisierte, dass ihr eine harte Zeit bevorstand. Sie mochte seinen Geruch nicht mehr, die Welt war eine andere geworden.
Am Abend bestellten sie Pizza und er erzählte von seiner Arbeit und wie er einen Kollegen derart in die Pfanne gehauen hatte, dass dieser entlassen wurde. Dazu sein psychopathisches Grinsen. Sie fragte sich, warum ihr das nie aufgefallen war. Das war ihr Mann? Ihre große Liebe?
Das Wochenende wurde für sie zur reinsten Qual. Beide waren einsilbig zueinander. Schließlich schafften sie es sogar, sich gar nicht mehr direkt zu unterhalten, sondern ihre Kommunikation über das Kind abzuwickeln.
„Mama geht jetzt einkaufen, Papa wird für dich da sein. In zwei Stunden bin ich wieder da.”, und so fuhren sie fort, gewollt oder ungewollt.
Erst am Sonntagabend bekam Sandra gute Laune, weil sie am Montag endlich für sich sein konnte, ohne ihn. Sie wollte sich heute ein paar Gläser Wein gönnen und beim Abendessen fühlte sie sich sogar wohl. Liebe braucht auch Abstand, dachte sie. Ihre Gedanken wurden positiver.
So kam es beim Essen sogar zu einer Unterhaltung, in der sie sich näherten und das Erlebte und auch den Anlass des Ärgers erstmals besprachen. Der Wein löste ihre Zungen und im weiteren Verlauf sagte Sandra:
“Erzähl mir von den Zwillingen. Hast du Fotos von Johanna? Oder von beiden? Und was machen eigentlich ihre Eltern?”
“Ihre Eltern sind bereits ein Jahr vor ihrem Tod ausgewandert. Sie waren zu Wracks geworden, sie schämten sich und fühlten sich als Versager.”
“Wohin?”
“Schweden, irgendwo nahe Malmö. Dort konnte er für seine Firma weiterarbeiten, Geld hatten sie ja genug.”
“Hatten sie weitere Verwandte hier?”
“Nein.”
“Wer hat denn alles arrangiert, also den ganzen Behördenkram und so?”
“Ich.”
Sie merkte, wie er wieder maulfauler wurde. Sie verstand es nicht. Schließlich war alles gesagt, die Karten lagen auf dem Tisch.
“Was ist mit Fotos? Du wirst doch Fotos von ihnen haben? Es gab doch bestimmt eine Art Nachlass, oder?”
“Ja, eine Art Nachlass schon.”
“Wo ist er denn?”
“Ihr gesamter Nachlass steht in Kartons auf dem Dachboden. Da sind aber keine Fotos drin.”
” Trotzdem interessant. Das würde ich mir gern mal anschauen. Ist doch irgendwie spannend.”
“Das wirst du bitte nicht tun!”, sagte er laut und zu aufgeregt. “Hast du denn gar keinen Respekt?” Ruhiger fuhr er fort: “Entschuldige. Kannst du bitte die Vergangenheit so belassen? Ich möchte es einfach nicht, ich will, dass dieses Kapitel für immer geschlossen bleibt.”
“Okay, wenn du es so willst.” Nichts war okay für sie. Sie würde auf jeden Fall gucken, so viel stand für sie fest. Der Rest der Unterhaltung war so oberflächlich, dass beide nach einer weiteren Flasche Wein ins Bett gingen. Johanna schlief zwischen den beiden, die sich zum Einschlafen die Rücken kehrten.
Wieder träumte Sandra bizarr. Licht schien durch die Tür, Geräusche kamen vom Dachboden. Sie vermutete einen Löwen dort. Sie musste das Kind schützen. Sie hörte den Löwen, er kam die knarzige Klappleiter hinab. Ihr Herz hämmerte in ihrer Brust. Wo war Felix? Er musste sie doch beschützen! Das Licht ging aus. Ihr Traum endete.
Als er am nächsten Morgen zur Arbeit aufbrach, schliefen sie und Johanna noch tief, obwohl es bereits acht Uhr war. Sie war durch ihre Träume verwirrt, als sie aufwachte. Felix war nicht mehr da, realisierte sie, und der Traum waberte noch durch ihren Kopf. War in ihrem Traum nicht auch sein Platz im Bett leer gewesen?
Während sie den Morgen mit ihrer Tochter verbrachte, dachte sie an nichts anderes mehr, als endlich auf den Dachboden zu gehen. War dort etwas Gefährliches?, fragte sie sich und konnte den Zusammenhang zu ihrem Traum nicht herstellen. Johanna zeigte keinerlei Zeichen von Müdigkeit. Sandras Neugier siegte, in einer waghalsigen Aktion stieg sie mit dem Kind die schmale Klappleiter hoch, nachdem sie den Wipper und den Spielbogen nach oben gebracht hatte.